Über das Jahr
Jahre haben die Eigenschaft, dass auf ein ausgehendes gewöhnlich ein neues folgt. Die Erde dreht sich seit unzähligen Jahren um die Sonne, und es ist vernünftig, anzunehmen, dass sie es auch weiterhin tun wird, jedenfalls so lange, bis sie von ihrem sterbenden Zentralgestirn verschluckt wird. Das wird in ungefähr fünf Milliarden Jahren geschehen, eine so unvorstellbar lange Zeit, dass man – vom Standpunkt der Menschen aus gesehen – mit gutem Gewissen sagen kann, die Erde werde die Sonne bis in alle Ewigkeit umkreisen.
Das Universum rechnet nicht in Jahren. Im Angesicht der Schöpfung bedeutet ein Jahr nichts. Es ist so unbedeutend, dass auf den Skalen des Kosmos keine Veränderung ersichtlich wird, als wäre das Universum bereits den Hitzetod gestorben. Doch wie unglaublich viel Zeit vergeht in einem Jahr für den Mensch!
Gäbe es das Jahr nicht, und irrte die Erde ziellos durch die ungeheuerlichen Weiten des Weltalls, gebunden nur durch die Gesetze der Gravitation, man müsste es erfinden. Der Mensch braucht ein Zuhause, um sich seines Platzes in der Welt zu vergewissern, genau wie er das Jahr braucht, um sich und seine Existenz in der Geschichte zu verorten. Wir müssen wissen, wo wir sind und wann wir sind, um zu verstehen, was um uns ist, was war und was werden kann. Es ist dieses Verlangen, das die Menschheit keine Kosten und Mühen scheuen lässt, das schier unergründliche All weiter zu ergründen, weiter zu schauen, und damit auch weiter zurück zu schauen.
Ein Jahr ist eine lange Zeit für einen Menschen. Vieles kann sich in diesen 365 Tagen verändern. Ich lese gerne Bücher über Geschichte. Wie lebten die Menschen vor X Jahren? Wie sah die Welt früher aus? Welche Probleme stellten sich den Frauen und Männern vergangener Tage? All dies fasziniert mich, und ich vergleiche gerne mit der heutigen Zeit. So scheint es nur natürlich, dass ich am Ende eines Jahres auf mein eigenes Leben zurückblicke und mich frage, was es mir Gutes und Schlechtes gebracht hat.
Die Erinnerung ist kein verlässlicher Kamerad. Unglaublich schmerzhafte oder wunderbar glückliche Erlebnisse brennen sich viel stärker ins Gedächtnis als die viel häufigeren, aber weniger intensiven Höhen und Tiefen des täglichen Lebens. Negative Ereignisse überstrahlen zudem noch in gewissem Maß die positiven, denn der Mensch muss aus ihnen lernen, um sich – bewusst oder unbewusst – in Zukunft davor zu schützen. Mir ist all das bewusst, doch meine eher pessimistische Natur führt dazu, dass ich die vergangenen 365 Tage als überwältigend negativ in Erinnerung habe, was wohl eher auf den eben beschriebenen Tatsachen als auf real Erlebtem gründet.
Ich beabsichtige nicht, viel weiter ins Detail zu gehen. Es gab viel Trauriges und viel Schönes. Ich habe viel gelitten und viel gelacht, doch ist dies weder ein Alleinstellungsmerkmal noch besonders gut oder schlecht. Es ist einfach das Leben. Das Leben kennt keine Wertungen wie gut oder schlecht. Es ist nicht gut oder schlecht, es ist, im einfachsten und doch am wenigsten fassbaren Sinne des Wortes. Es sind wir Menschen, die dem Leben eine Wertung geben; am Ende eines Jahres darauf zurückblicken und es für gut oder schlecht befinden; sich auf die positiven oder negativen Aspekte fokussieren. Und damit sind auch wir es, die das Jahr bestimmen, und nicht umgekehrt vom Jahr bestimmt werden.
Mein Jahr hatte Höhen und Tiefen. Es gab gute Tage und schlechte Tage, wie es auch weiterhin gute und schlechte Tage geben wird. Ich habe 2024 negativ in Erinnerung, doch auch die schönen Erlebnisse treten zu Tage, wenn man nur ein wenig tiefer gräbt und ehrlich zu sich selbst ist. Irgendwann werden all diese Geschichten Geschichte sein. In fünf Milliarden Jahren oder einer Ewigkeit wird die Erde ihre letzte Umrundung der Sonne angetreten haben, und das letzte Jahr wird vergangen sein. Und sollte es dann noch Menschen geben, dann werden sie nicht umhinkommen, zu verstehen, was auch den heutigen Menschen nach reiflicher Erforschung ihrer conditio humana offensichtlich erscheinen muss: alle Jahre, Tage, Stunden sind nicht von Bedeutung. Alles was zählt und existiert ist der Moment, und er entschwindet ungenutzt, hält man sich nicht an ihm fest.