Sehnsucht nach Moria
Als Zugpendler hatte ich früher sehr viel Zeit zu lesen. Sobald ich in einen Zug einstieg, hatte ich immer sofort ein Buch in der Hand. Kopfhörer auf, irgendeine Playlist mit Naturgeräuschen an, und sofort war ich in einer anderen Welt, weit weg von den dicht an dicht gedrängten Fahrgästen und seelenlosen Lautsprecherdurchsagen.
An einen Moment erinnere ich mich noch ganz genau. Ich saß frühmorgens in einem Regionalexpress und las J. R. R. Tolkiens “Der Herr der Ringe”. Die Ringgefährten hatten gerade unter Lebensgefahr die geheime Tür zum Zwergenreich Moria durchquert und irrten nun in fast völliger Dunkelheit durch die verlassenen Gänge und Hallen von Khazad-Dûm. Plötzlich überkam mich eine unglaublich starke Sehnsucht danach, selbst an diesem ausgedachten Ort zu sein.
Tolkien schafft in seiner Erzählung vom Ringkrieg etwas, das wenige andere Autoren können: mit wenigen Andeutungen macht er uns glauben, die Orte seiner Fantasie hätten eine jahrtausende alte Geschichte. Natürlich war Moria vor vielen hundert Jahren ein belebtes und blühendes Zwergenreich. Natürlich zogen die Altvorderen der Rohirrim mit ihren Pferden durch die schier endlose Weiten von Rohan. Natürlich regierten die Könige von Gondor, Sohn folgend auf den Vater, in den Städten Minas Anor und Minas Ithil. Wie sollte es auch anders sein?
Ich saß nun also in meinem Zugabteil, beseelt von dem Gedanke, die Geheimnisse von Khazad-Dûm auf eigene Faust zu entdecken. Gleichzeitig fühlte ich mich traurig. Was nicht ist, kann nicht entdeckt werden. Das Auenland, Gondor und Moria werden nie mehr sein als eine schöne Vorstellung, eine Zuflucht von der Realität. Doch warum kann so ein Ort, der mehr in der Fantasie lebt als in geschriebenen Worten, eine so starke Faszination und Anziehungskraft hervorrufen?
Ich denke es liegt an der Neugier, die den meisten (wenn nicht sogar allen) Menschen eigen ist. Was sonst hätte Lewis und Clark im Jahre 1804 in das unbekannte Herz des nordamerikanischen Kontinents getrieben? Es ist diese Neugier, die Menschen zu Entdeckern macht. Und es ist diese Neugier, die Menschen in die Fatasiewelten kreativer Köpfe wie Tolkien treibt. Denn auf der Welt gibt es keine unbekannten Orte mehr (wenige Ausnahmen wie der Meeresboden oder Teile des Amazonasbeckens bestätigen die Regel). Es gibt nichts mehr zu entdecken, also sucht sich der Kopf seine eigene terra incognita.
Ich werde Moria niemals zu Gesicht bekommen. Doch allein die Vorstellung, dass da etwas sein könnte, ist ein Geschenk, das ich nicht mehr missen möchte.